Auf verlorenem Posten?

Debattenbeitrag

Der progressive Kampagnen-Aktivismus spielt sich weitgehend im Netz ab. Er könnte jedoch zu einer konstruktiven politischen Gegenkultur beitragen, meint Martin Zülch.

Aktivist*innen der Gruppe "Letzte Generation" besprühen ein Privatflugzeug auf Sylt mit oragener Farbe

Bei der Übermittlung von Petitionen, Aufrufen und E-Mail-Aktionen an einen Adressatenkreis von rund 190 Personen spüre ich häufig ein Gefühl der Vergeblichkeit. Im Mai und Juni leitete ich an diesen mehr als 70 politisch brisante Eingaben weiter. Darf man sich angesichts dieser Menge eine engagierte Unterstützung von Angehörigen eines linksbürgerlichen Milieus erhoffen oder fühlt sich die Mehrheit davon abgeschreckt? Vereinzelte Hinweise legen Letzteres nahe: Ein Aktivismus, der sich mit großer Wachsamkeit für die Erfordernisse einer lebenswerten Zukunft einsetzt und ins politische Tagesgeschäft einzumischen sucht, stößt eher auf Unentschlossenheit und Passivität als auf Zustimmung. 

Der Auslöser, regelmäßig Newsletter mit den neuesten Interventionen zu versenden, lag für mich in der Kampagnen-Praxis selbst begründet. Ihre Akteure wie Avaaz, Campact, WeAct, WeMoveEurope und bis zu 30 NGOs bitten nach jeder Unterzeichnung ihrer Eingaben um deren Weiterverbeitung per Email, Twitter oder Facebook. Wie soll sich dann ein "Follower" wie der Autor verhalten, der mit einem Großteil der Kampagnen-Szene vernetzt ist? Müsste er fast täglich ihre Eingaben weiterleiten oder jedesmal überlegen, ob das aktuelle Thema es wert ist, beworben zu werden?

Im Mai und Juni 2023 richteten sich die Einsprüche u.a. gegen fossile "Megaprojekte", die globale Rohstoffausbeutung, den Tiefseebergbau und Pläne zur Wasserstoffproduktion in der Antarktis, gegen das extrem gefährliche Klimagift Sulfuylfluorid, Uranimporte aus Russland und die Verbreitung von Atomwaffen, gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen indigener Gemeinschaften in Peru, Haftlager an den EU-Außengrenzen und weitere Hinrichtungen im Iran, und nicht zuletzt gegen die Personalnot in unserem Schulsystem. Angesichts der Brisanz, die all diesen Themen innewohnt, wäre es eine Anmaßung, jedesmal ein Urteil über ihre Relevanz und Dringlichkeit fällen zu wollen.

Vielmehr zeigt sich anhand der genannten Inhalte eine vieldimensionale Bandbreite, die sich beiheutigen Netz-Kampagnen ebenso auf ihre Adressaten erstreckt: die Funktions- und Entscheidungsträger*innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mitsamt ihren Machtbefugnissen im nationalstaatlichen, europäischen und internationalen Kontext.

Aus dieser Reichweite erwächst zugleich ein großes Dilemma: Blickt man auf den Netz-Kampagnen-Aktivismus (NKA) als Gesamtphänomen, so kann er als „Brutstätte“ für einen permanenten Interventionismus bezeichnet werden – einer Inflationierung von politischen Einflussversuchen, die paradoxerweise die kritische Bewusstseins- und Willensbildung in der Zivilgesellschaft zu schwächen droht: Leser*innen meiner Rundbriefe teilten wiederholt mit, dass sie sich von der Fülle neuer Kampagnen überfordert fühlen und dafür zu wenig Zeit hätten. Hinzukommt, dass sich die Zustimmung zu Kampagnen von NGOs häufig auf die eigenen Zielgruppen zu beschränken scheint. Zuspruch bis zu sechsstelliger Höhe erreichen dann in der Regel erst solche, die von breiten Bündnissen getragen sind, wie etwa die im September 2019 von 63 NGOs gestartete Petition für ein deutsches Lieferkettengesetz, die ein Jahr später mit 222.222 Unterschriften an das Bundeskanzleramt übergeben wurde. Auch die daran anschließende Petition zum EU-Lieferkettengesetz erhielt bereits innerhalb von neun Monaten mehr als 90.000 Unterschriften. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch Kampagnen mit geringeren Zustimmungswerten Etappensiege erringen wie etwa 2021 der Appell „Die ganze Lobby-Fußspur offenlegen!“ mit rund 21.000 Unterschriften.

Gemessen an den vielen Warnsignalen und wegweisenden Forderungen, die vom NKA ausgehen, ist die öffentliche Resonanz auf diese Form der politischen Intervention nur schwach entwickelt. Dies aber sollte bedeuten, sie aus ihrem Nischendasein im Netz zu lösen und ihre Botschaften bzw. Angebote zum Mitmachen wo immer möglich offline zu kommunizieren: bspw. in gewerkschaftlichen Arbeitskreisen und Workshops, im Kontext politischer Kundgebungen, Debatten und Fortbildungen. Dabei müsste hervorgehoben werden, dass es sich um eine der wenigen Möglichkeiten außerparlamentarischer Willensbildung und Einflussnahme handelt, die uns neben der Teilnahme an Bürgerinitiativen, Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams zur Verfügung stehen.

Die notwendigen Bedingungen sind hierfür bereits in einem Multiplikatorenkonzept vorhanden: zwei Handreichungen, die auf der Homepage der Bremer Heinrich Böll Stiftung unter "Ein Kampagnen-Pool zur Thematik Klima und Umwelt" und "Kampagnen in Zeiten von Krieg, Pandemie und Vielfachkrise" angeboten werden. Die hinreichende Bedingung sind jedoch wir selbst – unsere Aufmerksamkeit für zielführende Kampagnen und Bereitschaft, diese tatkräftig zu unterstützen.

Nur "Mitmachen!" zu rufen, wird indes aufgrund der lähmenden Wirkung zu vieler gleichzeitiger Konfliktthemen nicht genügen. Vielleicht aber der Hinweis, dass Netz-Kampagnen als Stachel für eine wachsam agierende oppositionelle Gegenkultur tauglich sind: Am 21.Juni verbreitete die Hilfsorganisation Oxfam den Appell "Klimakiller zur Kasse! Einen Privatjet haben nur wenige ...", in dem ein Lastenausgleich zwischen den Hauptverantwortlichen der Klimakrise – Industrieländern, Konzernen, Superreichen – und den Leidtragenden im Globalen Süden verlangt wird. Zwei Wochen zuvor besprühte die Initiative "Letzte Generation" auf einem Flughafen auf Sylt einen Privatjet mit Farbe und machte ihn damit fluguntauglich. Sind das rational zugängliche sowie aufmüpfige Signale, die wachrütteln könnten?