Rutschbahn ins Ungefähre

Debattenbeitrag

"Das Manifest für Frieden weicht einer klaren Positionierung aus", meint Martin Zülch in seinem Gastbeitrag.

Foto von einer großen Pistole aus Metall, der Pistolenlauf ist verknotet und zeigt in einen blauen Himmel.

Es war zu erwarten: Gegen Ende des ersten Kriegsjahrs werden erneut Rufe nach Friedensverhandlungen und einem Waffenstillstand laut. Doch diesmal geht die Initiative nicht von Intellektuellen und Kulturschaffenden aus wie beim Offenen Brief an Olaf Scholz Ende April 2022, sondern von zwei Persönlichkeiten, deren öffentliches Wirken umstritten ist: der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. Sie haben ein Manifest für Frieden verfasst und für dessen Bekräftigung eine Kundgebung in Berlin organisiert. Wenig später veröffentlicht der Sozialphilosoph Jürgen Habermas in der SZ ein sorgfältig abwägendes Plädoyer für Verhandlungen und weist angesichts der „zermalmenden Wirkung“ des Krieges auf den potenziell „vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen“ hin. Ein stärkerer Gegensatz zwischen differenzierter Analyse und simplifizierenden Aussagen lässt sich kaum vorstellen. 

Beim bisherigen Medienecho auf das Manifest macht sich allerdings eine Polarisierung bemerkbar, wie man sie bereits vom ersten Offenen Brief an den Bundeskanzler her kannte. Die Vorschläge zur schnelleren Beendigung des Kriegs wurden in gewohnter Manier abgeurteilt: „Manifest für die Unterwerfung“, „purer Zynismus“, „Mangel an Empathiefähigkeit“. Hätte die Kritik nicht sachlicher vorgetragen werden können, wofür die Deklaration Anhaltspunkte bietet?

Bereits der Titel „Manifest für Frieden“ weckt die Erwartung, dass es sich um eine wegweisende Grundsatzerklärung handelt. Dazu fallen die Ausführungen jedoch viel zu spärlich aus. An keiner Stelle ist bspw. von Irrtümern der Friedensbewegung die Rede. Dass die gleich nach Kriegsbeginn lauthals verkündete Parole „Die  Waffen nieder!“ trügerisch war, hätte man einräumen und sich dem zentralen Appell anschließen können, der drei Tage nach Kriegsbeginn von der ersten großen Berliner Friedenskundgebung ausging: Die russische Föderation müsse sofort alle Angriffe einstellen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und zum Verhandlungstisch zurückkehren. Dies ist jetzt in einem vom Netzwerk Friedensinitiative verbreiteten Aufruf zu Aktionen rund um den 24.Februar verlangt worden.

Das Manifest bezieht sich auf zwei Kernanliegen: „die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen“ und eine starke „Allianz (...) für Friedensverhandlungen“ aufzubauen, die mit der Warnung einhergehen, nicht auf „eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg“ zu geraten.

Von Dilemmasituationen, die eine Umsetzung dieser beiden Anliegen erschweren, ist in dem Text nicht die Rede. Vergleicht man unter diesem Aspekt die Forderung nach einer Beendigung der Eskalation von Waffenlieferungen mit den an anderer Stelle geäußerten Überzeugungen der 69 Erstunterzeichner*innen, so spiegelt das Postulat einen Minimalkonsens wider: Dieser konnte von einem Personenkreis geteilt werden, der wie die Theologin Margot Käßmann eine Beendigung der Waffenlieferungen verlangt, ebenso aber auch von einem anderen, der eine militärische Unterstützung der Ukraine befürwortet. Zu letzterem gehören der frühere Greenpeace-Chef Thilo Bode und Brigadegeneral a.D. Erich Vad. Besonders publikumswirksam plädiert auch der Journalist Franz Alt für die Option Waffen für die Ukraine mit Augenmaß. Der überzeugte Real-Pazifist stuft Luftabwehrsysteme als lebensrettende Maßnahme ein und engagiert sich zugleich für diplomatische Großoffensiven. Zudem hat er bei „Sandra Maischberger“ diese Orientierung als „Doppelstrategie“ bezeichnet – ein Begriff, der aufhorchen lässt. Denn er markiert den gemeinsamen Nenner von Standpunkten, die seit geraumer Zeit von Fachleuten verschiedener Provenienz zur schnelleren Kriegsbeendigung und Wiederherstellung des Status quo ante vom 23.Februar 2022 geäußert wurden: so etwa vom Ex-OSZE-Botschafter Rüdiger Lüdeking, dem Militärexperten Helmut W.Ganser, dem Sachverständigen für Terrorbekämpfung Peter R.Neumann oder dem Verteidigungspolitiker in der Linkspartei Paul Schäfer.

Ihr Sachverstand blieb in dem Manifest  unbeachtet – mit dem Ergebnis, dass hier keinerlei Überlegungen zu einer robusten Entspannungspolitik gegenüber der Eskalationsdominanz des Putin-Regimes vorzufinden sind. Im Übrigen hätten Hinweise zu den Chancen einer Doppelstrategie die Deklaration vor rechtslastiger Vereinnahmung geschützt. Was bleibt also übrig? Einstweilen nur die Hoffnung, dass sich Angehörige von tonangebenden sicherheitspolitischen Denkschulen mit Expert*innen aus der Friedens-, Klima- und Umweltbewegung zusammentun, um ein doppelstrategisches Konzept auszuarbeiten, das tragfähiger ist als das plakative Manifest.

Nach der Leopard-Panzer-Entscheidung der Bundesregierung wird jedoch die Umsetzung eines „Plan B“ (Stefan Reinecke, taz) kein easy-going sein. Wenn man von vornherein fadenscheinige Kompromisse mit dem Putin-Regime ausschließen will, so wird es um ein hartnäckiges Ausloten von Rahmenbedingungen für einen Waffenstillstand gehen – einer Waffenruhe, die sich nicht zur Fortsetzung des Kriegs missbrauchen lässt. Auch der von Teilen der Friedensbewegung  gewünschte Waffenlieferungsstopp dürfte wohl nur sukzessiv erfolgen: nach Einstellung aller Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur, dem Rückzug russischer Truppen und einem Rekrutierungsstopp.

Fazit: Sich gegen die weitere Eskalation, insbesondere die Lieferung von Kampfjets, zu wenden,  ist dringend notwendig. Für die Erreichbarkeit anderer Nahziele fehlt dem Manifest jedoch der Scharfblick. Ebenso schweigt es sich über Richtgrößen für einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine aus, wie sie bspw. von einer Expertengruppe um den US-Ökonomen Jeffrey Sachs im Juni 2022 entworfen wurden. Ein Ausblick auf Fernziele? Fehlanzeige.

Anmerkung: Diesen Text hat der Autor als Debattenbeitrag für die Meinungsseite der taz in dem hierfür gebotenen Zeichenumfang verfasst. Den Hinweis auf Kampfjets im letzten Absatz hat er der vorliegenden Version hinzugefügt.

Quellenangaben

Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht, Manifest für Frieden, Change.org

Jan Feddersen, Aufruf von Wagenknecht und Schwarzer. Ruiniertes Lebenswerk, taz 12.2.2023

Antje Lang-Lendrorf, Medienecho auf die Friedenspetition, Unmoralisch ist anders taz, 14.2.2023

Politologe, "Manifest für den Frieden" ist "purer Zynismus" Interview mit Herfried Münkler, NDRinfo

Josef Seitz, TV Kolumne Militärexperte nennt Wagenknechts Ukraine-Manifest „Zynismus pur“, focus online, 15.2.2023

Netzwerk Friedenskooperative, Stoppt das Töten in der Ukraine – für Waffenstillstand und Verhandlungen! Aufruf zum Aktionswochenende vom 24. bis 26 Februar 2023

 "Wir haben eine Verpflichtung, zu deeskalieren" Interview mit Margot Käßmann, NDRinfo

Carla Reveland, Pascal Siggelkow, Kritik an Petition "Russland könnte Krieg jederzeit beenden" , tagesschau14.2.2023

Jan Feddersen, Atomkriege sind unumkehrbar. Interview mit Thilo Bode, taz, 18.- 24.2.2023

„Frieden schaffen mit Waffen ist Real-Pazifismus“ Franz Alt bei "maybrit illner", 26.1.2023

Franz Alt bei maischberger,15.02.2023

Katrin Göring-Eckardt und Franz Alt über Friedensverhandlungen in der Ukraine maischberger 15.2.2023

Franz Alt, Fundamental-Pazifismus und Real-Pazifismus, Sonnenseite, 21.1.2023

Annika Ross, Was sind die Kriegsziele in der Ukraine? Interview mit Brigadegeneral Erich Vad, Emma, 25.1.2023

Rüdiger Lüdeking, Keine dogmatische Gesinnungspolitik , taz 30.10.2022        

Nato-Treffen in Brüssel – Was rettet die Ukraine? Phoenix Runde, 15.2.2032 Alexander Kähler diskutiert mit seinen Gästen: - Egon Ramms, General a.D. - Rüdiger Lüdeking, OSZE-Botschafter a.D. - Liana Fix, Sicherheitsexpertin - Ines Schwerdtner, Chefredakteurin jacobin

Debatte um Ukraine-Krieg.Bundestag streitet hitzig über „Friedensinitiative“ der AfD, RND, 9.2.2023

Jürgen Habermas, Ein Plädoyer für Verhandlungen, Süddeutsche Zeitung, 14.2.2023

Daniel Cohn-Bendit, Claus Leggewie, Habermas unterschlägt die Risiken, taz 18.-24.2.2023

Stefan Reinecke, Lieferung von Kampfpanzern an Ukraine: Der Westen braucht einen Plan B, taz 28.1.2023

Helmut W.Ganser, Unfassbare Nonchalance , taz 7.10.2022

W.Ganser, Offenes Winterfenster. Ein militärischer Sieg ist weder für die Ukraine noch Russland erzielbar. Die Chance für eine Beendigung des Krieges muss jetzt genutzt werden. IPG, 22.12.2022

Peter R. Neumann, Ukraine: Der Westen braucht eine neue Strategie, Kommentar, spiegel-online, 8.10.2022

Paul Schäfer, Reflexionen über den Krieg gegen die Ukraine und Möglichkeiten seiner Beendigung, Homepage, PDF, 24.11.2022

Stefan Grobe, Kampfjets für die Ukraine - pro und contra, yahoo.com, 22.2.2023

Keine Angst vor Friedensverhandlungen, Jeffrey Sachs, Romano Prodi et al. „Die Trommelschläge des Kriegs müssen Worten des Friedens weichen“, KARENINA Petersburger Dialog online 20.6.2022