Was ist eigentlich schön? – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ästhetik-Begriff

Essay

 

„In our mestizaje theories we create new categories for those of us left out or pushed out of the existing ones. We recover and examine non-western aesthetics while critiquing western aesthetics; recover and examine non-rational modes and „blanked-out“ realities while critiquing rational, consensual reality; recover and examine indigenous languages while critiquing the „languages“ of the dominant culture. And we simultaneously combat the tokenization and appropriation of our literatures and our writers/ artists.“                  

Gloria Anzaldúa (1)

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Wer entscheidet darüber, welche künstlerischen Arbeiten in Museen ausgestellt werden? Welche Künstler*innen werden von wem auf Festivals eingeladen und aus welchen Personen besteht das Kurator*innen-Team? Und wer definiert, was zeitgenössische moderne Kunst ist in Abgrenzung zum Beispiel zu Kunsthandwerk und Folklore.

Diese Abgrenzung führt zu einer Klassifizierung und Kategorisierung künstlerischer Arbeitsweisen, die eng verknüpft sind mit kolonialen Machtstrukturen und mit dem westlichen Verständnis von Ästhetik. Es wäre auch möglich, vom Othering innerhalb der Künste zu sprechen: Kunstformen und Künstler*innen werden durch ein starkes Machtgefälle voneinander abgegrenzt.

 

Auch meine Wahrnehmung von Kunst ist stark geprägt vom eurozentristischen Kunstgeschichts-Kanon. In den Einführungskursen der Kunstgeschichte an der Universität drehte sich alles um die „alten (weißen) Meister“ aus Italien, Frankreich und Deutschland, ohne kritisch über die fehlende Diversität zu reflektieren, oder darüber, weshalb ausschließlich diese Werke in den einflussreichsten Museen der Welt ausgestellt werden. Diese Museen befinden sich natürlich größtenteils im Globalen Norden. Einige Jahre arbeitete ich an verschiedenen Stadttheatern, und auch dort gab es überwiegend homogene Vorstellungen davon, wie eine Inszenierung auszusehen hat, um in dieses westliche Raster des Ästhetikverständnisses zu passen. Ich ertappe mich auch heute noch dabei, wie ich in dieses eurozentristische Muster verfalle, wenn ich über Kunst spreche oder gar bewerte, vor allem, wenn es sich um Kunstformen handelt, die für mich neu sind. Was finde ich eigentlich schön?

Deshalb versuche ich, mein bisheriges Ästhetikverständnis zu verlernen, zu zerlegen und zu hinterfragen: Woher kommt dieses Verständnis genau? Und was gibt es jenseits der eurozentristischen Ästhetik?

 

Denn was in den Dominanzgesellschaften des globalen Nordens als schön empfunden wird, wurde während der Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts als sogenannte Ästhetik konstruiert und sollte fortan als globaler, allgemein gültiger Referenzpunkt dienen: Modern aestheTics had its point of origination in Europe, it is regional, local but assumes the right to be ONE universal AMONG other regional and local universals.“ (2)

 

Immanuel Kants während der Aufklärung geprägte Definition des Schönen drehte sich deutlich um die Achse der Kolonialität (3). Ästhetische Wahrnehmung und Empfindung waren seiner Ansicht nach ein weißes Privileg. In Schriften wie „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1764), „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775) und „Kritik der Urteilskraft“ (1790) konstruiert Kant verschiedene Stufen der Humanität und wird zu einer der Schlüsselfiguren der Rassentheorien. (4) Hinsichtlich der Verknüpfung dieser Theorien mit Ästhetikkonzepten ist der Philosoph zentral, da er in seinen Schriften anthropologische, philosophische und ästhetische Reflexionen miteinander verbindet. Nach Kants Auffassung können allein weiße Menschen das Ideal der Schönheit verkörpern. Sein Ästhetikverständnis war eng verknüpft mit dem Konzept der Zivilisation. Nur wer zivilisiert war, hatte Geschmack und die Fähigkeit zur Vervollkommnung. (5)

So prägte Kant bereits vor mehr als 200 Jahren die Wahrnehmung des Schönen als etwas, das nur Weißen möglich sei. Schwarzen, insbesondere Versklavten, spricht er die Fähigkeit ab, „(…) in Kunst und Wissenschaft, oder irgend einer anderen rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt (zu haben)“(6). Seine essenzialistischen Theorien, die auch von anderen Philosophen wie Johann Gottfried Herder aufgegriffen und weitergeführt wurden, sind bis in die Gegenwart präsent und machen deutlich, wie zentral die Erfindung von Menschenrassen für die Legitimierung des Kolonialismus war und wie dies sogar das heutige Ästhetikverständnis beeinflusst.

 

So sollten ästhetische Theorien unter anderem dazu dienen, über Kunst zu urteilen und sie abzugrenzen, zum Beispiel vom als primitiv erachteten Handwerk. Die in Europa konstruierte Ästhetik sollte universelle Gültigkeit sowie Urteilskraft haben und baute auf der dualistischen Trennung von Emotionen und Empfindungen von Verstand und Geist auf. (7)

 

Nach Walter Mignolo diente der eurozentristische Ästhetikbegriff vor allem dazu, „(…) das Schöne und Erhabene zu verstehen und schätzen zu können als auch für die Bestimmung, wer noch nicht in der Lage war, ein derartiges Verständnis zu erlangen“(8). Hier zeigt sich die Instrumentalisierung des Begriffs sowie die verschiedenen Dimensionen von Kolonialität, denn nicht jedem Menschen wurde in gleichem Maße die Fähigkeit zugesprochen, über ein ästhetisches Empfinden zu verfügen oder dies erwerben zu können.

 

Diese Hierarchisierung und Kategorisierung von Kunst, unter anderem anhand des Ästhetikkonzepts, sind kein Relikt der Vergangenheit, sondern bestehen bis in die Gegenwart.

Mit diesem Konzept wird auch noch heute argumentiert. Kurator*innen, Dramaturg*innen und künstlerische Leiter*innen fungieren als Gatekeeper*innen (9) im Kulturbetrieb, weil sie entscheiden, welche Künstler*innen den jeweiligen ästhetischen Ansprüchen gerecht werden. Problematisch ist dabei nicht nur, dass einige wenige Personen entscheiden, wer seine/ihre Kunst zeigen darf, sondern auch, dass die Auswahlkriterien oftmals noch auf Basis eines kolonial-hegemonialen Ästhetikbegriffs begründet sind.

Ein Beispiel dieser eurozentristischen Ästhetik in der derzeitigen Kunstpraxis ist der allgegenwärtige White Cube in Ausstellungsräumen, also die Idee, Kunst in weißen Räumen zu präsentieren. Nach Hito Steyerl soll die Weißheit der Wände bereits die von Kant beschworene Zivilisation signalisieren. Der White Cube dient als Maßstab für Kunst. Es stellt sich die Frage, was und wen er repräsentiert.

Der White Cube legt jedoch nicht nur ästhetische Richtlinien fester funktioniert selber als ästhetische Richtlinie. Durch die Inklusion in einen bestimmten Kanon wird dort letztlich auch definiert was Kunst ist. Die Aufnahme in den White Cube verleiht dem Werk nicht nur die Aura der Kanonisiertheit sie entscheidet letztendlich auch über dessen Wert im Kunstsystem.“ (10)

 

Besonders im Globalen Süden werden die kritischen Stimmen zunehmend lauter, dieses Konzept von Ästhetik und die damit einhergehende Macht zu dekonstruieren. Eine dieser Stimmen ist der kolumbianischen Kulturanthropologe Adolfo Alban Achinte, der das Konzept der dekolonialen Ästhetik eingeführt hat. Achinte diskutierte bereits ab den 1980er Jahren die Frage, welche Rolle Ästhetik in der kolonialen Machtmatrix spielt, inwiefern also das westliche Verständnis von Ästhetik koloniale Strukturen repräsentiert und reproduziert. Ziel der Forschungsgruppe rund um Achinte war es, die laufenden post- und dekolonialen Diskussionen mit ästhetischen Debatten und Praxen zu verbinden, denn dies war bis zu diesem Zeitpunkt eine Leerstelle in den Diskussionen rund um Dekolonisierung.

 

Mignolo, welcher Teil dieser Gruppe war, veröffentlichte im Jahr 2010 seinen ersten Artikel zum Konzept der dekolonialen Ästhetik (11) und betonte hier besonders einen nichtbinären Ansatz von Fühlen, Denken und Handeln. Er positioniert sein Konzept damit im Gegensatz zu der in Europa ab dem 18.Jahrhundert üblichen Trennung von Verstand und Emotion/ Körper und Geist. Mignolo plädiert dafür, die Vernunft nicht als einzige Möglichkeit zu begreifen, die Welt zu verstehen, und diese Dichotomie zu durchbrechen.

 

Mignolo und sein Kollege Rolando Vazquez fordern deshalb ästhetischen Ungehorsam, aesthetic disobedience, gegenüber dieser Kolonialität der Ästhetik, und ein erster Schritt ist für die Wissenschaftler die Umwandlung des Begriffs aesthetic zu aestheSis, da die Terminologie bereits stark mit Kolonialität verwoben ist.(12) Diese neue Denkweise sieht aestheSis als Intervention innerhalb des etablierten Kunst- und Kulturbetriebs, die auf die Kritik an der kolonialen Machtmatrix Bezug nimmt.

AestheSis stellt den hegemonialen Kanon in Frage und dekonstruiert die Normativität, mit der Kunst bewertet und kategorisiert wird. Dem Körper wird hierbei eine größere Rolle zuteil, denn zu lange wurde das verkörperte Wissen unterdrückt und ihm im dualistischen Denken eine geringere Bedeutung beigemessen. Autor*innen wie Gloria Anzaldúa lenken den Fokus auf dekoloniale Verwandlungsprozesse, die durch den Körper gehen, und sprechen von embodied aestheSis. Auch für die Künstler*innen Rajkamal Kahlon und Nashilongweshipwe Mushaandja ist embodiment eine zentrale künstlerisch – ästhetische Praxis.

 

Diese neuen, machtkritischen Konzepte von Ästhetik tragen zur Dekolonisierung des Kulturbetriebs bei. Neue, dekoloniale Ansätze des Kuratierens und künstlerischen Arbeitens zeichnen sich ab. Zum Beispiel die Projekte, die im Sammelband Anti*Colonial Fantasies. Decolonial Strategies (13) aufgezeigt werden: die Arbeiten von BIPoC- Künstler*innen sind als ästhetische Interventionen gegen andauernden Kolonialismus und Rassismus innerhalb und außerhalb von Kulturinstitutionen zu verstehen.

 

Der Künstler und Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung sieht das Potenzial in den Begegnungsräumen der Kunst, dort könne Ästhetik neu gedacht werden:

An art space is a friction zone. An art space must be a place of reflection. A recalibration even of aesthetics.”(14)

Reibung, friction, erzeugt auch die Kuratorin Alanna Lockward durch ihr Projekt Black Europe Body Politics (15) im Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Unter dem Begriff der Afropean decolonial aesthetics werden gemeinsam neue ästhetische Ansätze des Fühlens entwickelt, die die versteckte Kolonialität, die art plantations of modernity, sichtbar machen und dabei den Fokus auf Erfahrungen der Diaspora legen.

Am Kant’schen Konzept des Schönen wird also gerüttelt, die koloniale Kontinuität und patriarchale Dominanz Schicht für Schicht aufgedeckt und zerlegt. Ästhetik als Inbegriff eines Werkzeugs des weißen (kolonialen) Patriarchats muss dekonstruiert werden. Zu lange schon instrumentalisieren weiße Männer wie Kant, Hegel sowie Intendanten und Museumsdirektoren den Ästhetik-Begriff für ihre Zwecke und schließen dadurch systematisch bestimmte Personen, u. a. Frauen und Künstler*innen of Color, aus. Doch genau hier setzen Interventionen an, die Deutungshoheit über Kunst und der Ästhetik-Begriff werden durch sie infrage gestellt: die Guerilla Girls intervenieren mit großen Bannern auf Kunstmessen, die Kuratorin Valeria Montoya durchschreitet Mexiko Stadt, Nashilongweshipwe Mushaandja performt rund um einen imaginären Gummibaum.

Interventionen in die Kolonialität von Ästhetik finden in vielfältigen Formen statt, der bisherige (Kunstgeschichts-) Kanon wird porös.


Fußnoten:

 

1 Anzaldúa, Gloria (2017): Haciendo caras, una entrada. In: Keating, AnaLouise (Hg.): The Gloria Anzaldúa Reader. Durham: Duke University Press. 124-139 (137)

 

2 Mignolo, Walter/ Vazquez, Rolando (2013): The Decolonial AestheSis Dossier. URL: https://socialtextjournal.org/periscope_article/the-decolonial-aesthesi… (02.06.2020)

 

3 Detaillierte Ausführungen zum Konzept der Kolonialität nach Aníbal Quijano finden sich im Editorial dieses Magazins. / Detailed explanations of the concept of coloniality after Aníbal Quijano can be found in the editorial of this magazine.

 

4 Siehe auch: Piesche, Peggy (2017): Der Fortschrittder AufklärungKants ‹Race› und die Zentrierung des weißen Subjekts. In: Eggers, Maureen Maisha/ Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/ Arndt, Susan (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST-Verlag. 3.Auflage. 30–39

 

5 Vgl. Kaufmann, Sebastian (2020): Ästhetik des Wilden. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750-1850. Basel: Schwabe-Verlag. 309ff

 

6 Kant, Immanuel (1764): Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, zitiert nach: Kaufmann, Sebastian (2020): Ästhetik des Wilden. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750-1850. Basel: Schwabe-Verlag. 319

 

7 Vgl. Kaufmann, Sebastian (2020): Ästhetik des Wilden. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750-1850. Basel: Schwabe-Verlag. 309ff

 

8 Mignolo, Walter (2012): Dekoloniale Ästhetik. Das Museum verlernen und wiedererlernen durch Pedro Lasch Black Mirror/ Espejo Negro. In: Bandi, Nina/ Kraft, Michael G. / Lasinger, Sebastian (Hg.): Kunst, Krise, Subversion. Zur Politik der Ästhetik. Bielefeld: Transcript-Verlag. 129–148 (131)

 

9 Gatekeeper*innen fungieren als Türsteher*innen, sie haben eine wichtige Position bei der Entscheidungsfindung. / Gatekeepers act as bouncers, they have an important position in the decision-making process.

 

10 Steyerl, Hito (2017): White Cube und Black Box. Die Farbmethaphysik des Kunstbegriffs. In: Eggers, Maureen Maisha/ Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/ Arndt, Susan (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST-Verlag. 3.Auflage. 135–43 (135)

 

11 Mignolo, Walter (2010): Decolonial Aesthesis. In: Calle 14. Arte y Cultura. Ausgabe 4

 

12 Mignolo, Walter/ Vazquez, Rolando (2013): Decolonial AestheSis: Colonial Wounds/ Decolonial Healings. URL: https://socialtextjournal.org/periscope_article/decolonial-aesthesis-co… (02.06.2020)

 

13 Caceres, Imayna/ Mesquita, Sunanda / Utikal, Sophie (2017): Anti*Colonial Fantasies. Decolonial Strategies. Wien: Zaglossus-Verlag

 

14 Flanagan, Rosie (k.A.): Art Must Be a Space Of Dissonance: In Conversation With Bonaventure Ndikung. URL: https://m-bassy.org/journal/art-must-be-a-space-of-dissonance (01.05.2020)

 

15 Vgl. Lockward, Alanna (2013): Black Europe Body politics: Towards an Afropean Decolonial Aesthetics. URL: https://socialtextjournal.org/periscope_article/black-europe-body-polit… (14.04.2020)