Selenskyjs absolute Mehrheit: Gefahr für den ukrainischen Parlamentarismus?

Analyse

Am 21. Juli 2019 fanden in der Ukraine vorgezogene Parlamentswahlen statt. Die Machtkonzentration in den Händen des Fernsehkomikers und neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sowie die geplanten Verfassungsänderungen bringen das politische System der Ukraine ins Wanken.

Verkhovna Rada - Parliament of Ukraine
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Die Werchowna Rada - das ukrainische Parlament in Kiew.

Die große Anzahl junger und vermeintlich prowestlicher Gesichter in der neuen ukrainischen Regierung sollte den Westen nicht täuschen: Die junge ukrainische Demokratie steht vor einer großen Herausforderung. Die Machtkonzentration in den Händen von Präsident Selenskyj – unabhängig davon, welche Pläne er für seine Politik hat – transformiert die politische Landschaft zu einer gefährlichen, unausgewogenen Machtpyramide mitsamt einer eigenen Dynamik. Diese Dynamik der Machtkonzentration gefährdet neben der Judikative und den Medien vor allem die Legislative: Die Werchowna Rada.

In den letzten Jahren entwickelte sich die Ukraine zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Republik, welche die Kompetenzen des Präsidenten durch ein starkes Parlament begrenzte. Das aus vielen unterschiedlichen Fraktionen bestehende Parlament genoss zwar wenig Vertrauen in der Bevölkerung, konnte aber mehrfach die Machtansprüche des Präsidenten blockieren.

So ist es im November 2018 Präsident Poroschenko nicht gelungen, das Kriegsrecht im ganzen Land für zwei Monate zu verhängen (was de facto eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen bedeutet hätte), weil das Parlament dem Präsidenten einen Kompromiss abrang und sich seinem Machtanspruch widersetzte. Diese Rolle einer „demokratischen Bremse“ verliert das Parlament in den letzten Wochen. Es besteht die Gefahr, dass das Parlament zu einem Statisten degradiert wird, wenn die „Diener des Volkes“ den Willen des Präsidenten nur noch absegnen, ohne Fragen zu stellen.

Diese Entwicklung kommt nicht überraschend. Schon Mitte Juni äußerte Ruslan Stefantschuk, damals noch Berater von Präsident Selenskyj und nun Vize-Sprecher des Parlaments, dass „Diener des Volkes“ eine „Monopartei“ werden solle, die über die Hälfte der Sitze im Parlament kontrollieren und „die volle Verantwortung für das Geschehen im Lande“ übernehmen werde. Dieses Ziel scheint erreicht zu sein. Mit rund 56 Prozent der Sitze im Parlament wählten die „Diener des Volkes“ gleich in der ersten Parlamentssitzung Mitglieder ihrer Fraktion zu Präsident und Vize-Präsident des Parlaments sowie zu Vorsitzenden von 19 der 23 parlamentarischen Ausschüsse.

Der absolute Machtanspruch der "Diener des Volkes"

Der absolute Machtanspruch der „Diener des Volkes“ manifestiert sich auch in der neuen Sitzverteilung. So wurden quer durchs Plenum alle ersten Reihen durch die „Diener des Volkes“ besetzt, während die anderen Fraktionen in die hinteren Sitzreihen verdrängt wurden. Offenbar soll dadurch die regierende Partei im Notfall das Rednerpult einfach physisch blockieren können, um Oppositionelle nicht zu Wort kommen zu lassen. Diese Befürchtungen wurden am 30. August befeuert, als Gruppen männlicher Abgeordneter der „Diener des Volkes“ alle Durchgänge während der Abstimmung über die Aufhebung der politischen Immunität blockierten und so jeglichen Versuch der Opposition, zum Rednerpult zu gelangen, im Keim unterbanden.

Interne Disziplin scheint innerhalb der größten Fraktion im Parlament eine herausragende Rolle zu spielen: Ende Juni wurde ein spezielles Training für alle neu gewählten „Diener des Volkes“ organisiert. Laut einer geleakten Audioaufnahme erklärte der erfahrene Politcoach Mykyta Potyrajew den Abgeordneten mehrfach, diese seien „niemand“ und säßen nur dank Präsident Selenskyj im Parlament.

Auch wurde viel Gewicht auf die Entmachtung der einzelnen Abgeordneten und auf die Stärkung der Parteidisziplin gelegt. Binnen einer Woche verabschiedete das Parlament die Aufhebung der politischen Immunität – eine Forderung, die schon viele Jahre auf der Agenda des Parlaments stand, über die aber nie abgestimmt wurde.

Parallel dazu stimmte das Parlament in erster Lesung für einen Gesetzentwurf des Präsidenten, der Abgeordneten ihr Mandat entzieht, wenn sie aus ihrer Fraktion austreten oder wenn sie mehr als ein Drittel der Parlaments- oder Ausschusssitzungen „ohne triftigen Grund“ verpassen. Solche Maßnahmen sind zwar in der Bevölkerung aus nachvollziehbaren Gründen populär, schränken aber die Unabhängigkeit von Abgeordneten drastisch ein.

Regeln für den Umgang mit den Medien

Weiter sollten in der Fraktion „Diener des Volkes“ interne Regeln ausgearbeitet werden, welche ein Verbot vorsehen, ohne Genehmigung der Partei mit der Presse zu sprechen. Ein generelles Recht, mit der Presse zu sprechen, wurde nur drei Personen erteilt: dem Parlamentspräsidenten Dmytro Razumkow, dem Fraktionsvorsitzenden Dawid Arachamia und seinem ersten Stellvertreter Olexandr Kornijenko. Weitere 50 Abgeordnete aus der Fraktion dürften in begrenztem Maße in Talkshows auftreten, sollen dafür aber mit fertigen Antworten vorbereitet werden. Ob und wie die restlichen knapp 200 Abgeordneten der Fraktion mit Medien sprechen dürfen, bleibt unklar.

Erheblicher Druck auf die Parlamentarier, von denen mehr als 80 Prozent erstmals im Parlament sitzen und politisch unerfahren sind, kommt auch vom Präsidenten. In seiner Rede während der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments drohte er den Abgeordneten mit der Auflösung der Rada in einem Jahr, sollten sich die Parlamentarier „unverantwortlich“ benehmen –  er habe schon erfahren, so Selenskyj, dass die Auflösung des Parlaments „gar nicht so schlimm“ sei. Dabei wäre eine solche Auflösung des Parlaments nach einer „Probezeit“ verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehen. Einen Abgeordneten der oppositionellen Poroschenko-Partei, der auf eine Verletzung der Sitzungsordnung durch Parlamentspräsident Razumkow hinwies, schrie Selensky an mit den Worten: „Warum heulen Sie so?“.

Dem Appell des Präsidenten bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments, nun schnell Gesetze zu verabschieden, folgten die „Diener des Volkes“ umgehend: Parlaments-Vize-Präsident Stefantschuk sagte in einem Videointerview, dass bereits 465 Verfassungsänderungen vorbereitet worden sein sollen (bei 161 Artikeln der Verfassung). Wichtige Gesetzesvorhaben wurden noch am ersten Sitzungstag abgestimmt und an die entsprechenden Ausschüsse geleitet – ohne, dass die Abgeordneten die Entwürfe überhaupt vorher einsehen konnten.

Die Aushöhlung des Parlaments

So wurden bei der ersten Sitzung des Parlaments Gesetzentwürfe über die Justizreform, über einen „Neustart der Staatsmacht“, über die Unterordnung der Nationalgarde unter den Präsidenten sowie viele weitere verabschiedet. Dabei kam es zu kuriosen Argumentationen: So soll die Zustimmung zur umstrittenen Kandidatur von Innenminister Awakow laut einer geleakten SMS einer Abgeordneten der „Diener des Volkes“ damit begründet worden sein, dass Ex-Präsident Poroschenko für Dezember einen „Putsch“ plane und es deswegen wichtig wäre, Awakow im Amt zu belassen.

Die Bereitschaft, ohne Rücksprache und Diskussionen für Gesetzesentwürfe des Präsidenten zu stimmen, kann eine gefährliche Entwicklung bedeuten. Viele der durchgewunkenen Reformen erweitern die präsidialen Kompetenzen enorm: So soll der Präsident u.a. das Recht bekommen, die Leitung des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (NABU) und des wichtigen Untersuchungsgremiums DRB zu ernennen und zu entlassen. Der Präsident soll auch das Recht erhalten, neue Organe zur Regulierung und Kontrolle der Wirtschaft zu schaffen und zu besetzen, was ihm auch im Bereich der Wirtschaft, eigentlich einer Kernkompetenz des Premiers, großen Einfluss geben würde. Auch andere Gesetzentwürfe sehen weitreichende Verfassungsänderungen und die Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten vor.

Mit der hohen Zahl von Verfassungsänderungen ist die Entwicklung des ukrainischen Parlamentarismus in eine gefährliche Phase geraten. Eine Aushöhlung des Parlaments, eine Umverteilung der Kompetenzen zugunsten des Präsidenten und die offensichtliche politische Unerfahrenheit der neuen Abgeordneten bringen das bisherige Machtsystem ins Wanken. Die westlichen Partner der Ukraine sind daher angehalten, die ukrainische Politik vor diesen Gefahren zu warnen, und sich nicht mit der bloßen Hoffnung abzugeben, dass die gegenwärtige Umverteilung „für Reformen notwendig“ sei.

Sergej Sumlenny ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Dieser Beitrag erschien zuerst in den Ukraine-Analysen, Ausgabe Nr. 221 (PDF).