Nicht einmal Demagogie

Analyse

Sami Berdugo warnt vor der Gefahr die Augen und Ohren vor der Politik im In- und Ausland zu verschließen. Dies birgt die Gefahr, dass wir Populismus nicht mehr wahrnehmen und ihm Raum bieten

Noch nie im Leben habe ich daran gedacht, eines Tages erblinden zu wollen. Nichts mehr zu sehen. Und auch nichts mehr zu hören. Richtig, das sind nur Worte und Sätze. Und doch, da ich sie niederschreibe, verbirgt sich in ihnen sehr wohl ein Gefühl und Bestreben, sich abzuschotten und zu verschließen, aus dem Ort und der Zeit zu verschwinden, die ich begleite, sie nicht mehr zu sehen und ihnen nicht mehr lauschen zu müssen. Aber nicht meinetwegen. Ich kann mir nicht die Schuld geben für meinen Wunsch, sich all dem zu entziehen, was in meinem Land vor sich geht und was sich mir an anderen Orten auf der Welt offenbart.

Immer habe ich gehofft, mich als Teil eines Volkes fühlen zu können, einer in der großen Masse zu sein. Egal welcher Art, israelisch oder jüdisch, arabisch oder europäisch, ja sei es sogar amerikanisch. Das mittellose Elternhaus, in dem ich aufwuchs, mit meinem an seiner Emigration leidenden Vater und meiner des Lesens und Schreibens unkundigen Mutter, löste bei mir das Bestreben aus, in einer Menge aufgehen zu wollen, egal welcher. Ich glaubte und spürte, dass die meisten Menschen um mich herum sich nicht von mir unterschieden, und auch wenn es zwischen uns Unterschiede geben mochte, so gehörten wir doch nach allem zum Volk, waren eine Gruppe, die sich durch ihre Volkstümlichkeit und Schlichtheit auszeichnete, und durch unsere Loyalität untereinander. Durch die grundlegendste Verbindung zwischenmenschlicher Beziehungen entstand eine plebejische Solidarität, und ich konnte nicht anders als denken, dass dergestalt auch Humanität erwuchs – die Güte des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen als Menschen.

Früher hat die Mehrheit aller Bürger in Israel wohl so empfunden, ebenso wie die Bewohner anderer Staaten in Mitteleuropa und auch in Amerika. Ungeachtet ihrer Probleme und Auseinandersetzungen, die es ja gab, waren damals Solidarität und Mitgefühl zu spüren, die einzig und allein aus der Sprache der Menge und ihrem Verhalten erwuchsen. Sogar meine Mutter, vollkommen ungebildet und klug auf ihre unvergleichlich intelligente Weise, war der Überzeugung, dass mein Bruder und ich in einem Umfeld aufwuchsen, das sich uns gegenüber nicht überheblich zeigte, vor allem aber in einer Gesellschaft, die unsere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Schwäche nicht zu unserem Nachteil ausnutzte.

Doch jetzt zerbricht all dies. Jeder neue Tag bringt seine populistische Botschaft mit sich, bis ich die Augen bedecken und meine Ohren verschließen möchte. Richtig, schon immer in der Geschichte der Menschheit sind Regime und Herrscher in Erscheinung getreten, die versucht haben, sich bei den Massen beliebt zu machen, sie glauben zu lassen, man sei für jeden Einzelnen da und habe nichts als das Wohl der Gesamtheit im Sinne, über die man herrschte. Aber auch als ich studierte und über diese Regime und ihre namhaften Vertreter las, hatte ich das sichere Gefühl, wie wenig ernst sie in ihrer Absicht gewesen waren. Ich stellte sie mir als Clowns, als Narren vor, die selber wussten, dass sie nur mit der Menge spaßten, die aber in Wirklichkeit sich nie mit dieser vermischen und niemals die Zuneigung der Bevölkerungsmehrheit würden gewinnen können. Vor ungefähr dreißig Jahren waren das spannende, ja sogar ein wenig amüsante Erkenntnisse.

Als der Populismus geboren wurde, hielt er Abstand zu Menschen, die einer Gemeinschaft, einem Staat oder Ort angehörten. Der Populismus überschritt bewusst die Linie ins Innere der Öffentlichkeit nicht. Meine Familie und ich, ebenso wie viele andere Familien, wir wussten, kein Politiker oder politischer Führer würde tatsächlich je bei uns vorstellig werden, in unseren privaten Lebenskreis eindringen und sich mit unserer Welt vermischen, weder in ideeller Hinsicht und noch weniger in praktischer. Die Welten, in denen sich das israelische Volk und seine Machthaber bewegten, oder jeder andere Herrscher auf der Welt, waren zwei vollkommen voneinander getrennte, verschiedene. Daher nahmen wir auch die Sympathiebekundungen nie wirklich ernst, die die herrschende Klasse in ihrem Eigenlob verbreitete. Gesellschaftspolitische, ökonomische und kulturelle Parolen blieben in der Luft hängen und lösten sich schon bald in Wohlgefallen auf. Wir, die Volksmasse, machten uns weder die heuchlerischen Reden zu eigen noch den pathetischen Versuch der Herrschenden, zu sprechen wie wir, unsere Sprache zu verwenden. Womit sie kläglich scheiterten. In jenen Tagen funktionierte der Populismus noch nicht. Er blieb ein kurioses Randphänomen, sehr wenig beeindruckend und ganz bestimmt nicht bedrohlich.

Heute haben die Dinge sich verschoben. Die Bewusstseinsgrenze zwischen den Regierenden auf der Welt und ihren Untertanen ist aufgelöst, und als Resultat daraus greift der Niedergang des moralischen Urteilsvermögens der Massen immer weiter um sich. Die Masse ist in zunehmendem Maße blind für das, was geschieht, und hört nicht mehr hin, in welcher Weise ein populärer Regierungschef oder Staatspräsident zu ihr spricht. Was ist mit uns geschehen, dass wir uns derart vom wohlfeilen Gerede der Herrschenden umgarnen lassen? Wie kann es sein, dass die Öffentlichkeit – der populus – sich großzügig die trivialen Sentenzen ihrer Führer zu eigen macht? Was hat die Veränderung und den nachfolgenden Erdrutsch ausgelöst?

Denn jeder politische Führer und Herrschende, so anständig und gut er auch den eigenen Bürgern gegenüber auftreten mag, trägt immer ein Grundmaß an Arroganz und Elitismus in sich. Das entspricht seiner Natur. Der amerikanische Präsident wird nie in der gleichen Position sein wie jemand, der – sagen wir – im Mittleren Westen der USA lebt. Ganz egal wie sehr er sich auch einer ungeschlachten Alltagssprache bedient, spaßt und spottet über historische Ideen wie Brüderlichkeit und Gleichheit (da seiner Meinung nach ein Amerikaner aus dem Bundesstaat Iowa so denkt), werden alle Versuche des Herrschers, sich zu verhalten wie das Volk und in seiner Sprache zu sprechen, ihn doch niemals zu einem Teil des Volkes werden lassen.

Doch etwas an diesem Grundsatz ist dem Volk offenbar in Vergessenheit geraten. Die institutionalisierte, medialisierte Gehirnwäsche verleitet die Masse, die Geschichte auszublenden, die zu allen Zeiten die wichtige Kluft zwischen dem Untertan und seinem König, Kanzler oder Präsidenten betont hat. Heute sagt sich der einfache Mann auf der Straße, sein Präsident oder Premierminister sei im Grunde genommen ja fast wie er. Zumal und vor allem er ja auch genauso redet wie man selbst. Und die Medien führen uns dieses „volkstümliche“ Gebaren rund um die Uhr vor: Der Ministerpräsident trinkt Bier aus der Flasche, twittert, tritt gegen einen Fußball und füttert einen Hund. Er spielt die Rolle des „einfachen Mannes“ und weiß mit großer Bauernschläue, dass das Volk die „Figur“ und den „Bund“ zwischen ihm und seinen Untergebenen erkennt und begreift.

Und genau hier, in dieser fiktiven Kongruenz zwischen Herrschendem und Beherrschten, beginnt der zynische Missbrauch des Instruments Populismus, das so fatal und schrecklich wirkt, weil es nicht einmal der Demagogie bedarf. Ich laufe durch die Straßen, höre Nachrichten und lese Zeitungen, schaue mir aktuelle Berichterstattungen an, lausche Passanten auf der Straße, rede mit Verwandten – und stelle fest, wie tief der Populismus schon in uns eingedrungen ist. Wir freuen uns regelrecht, dass die Grenze zwischen uns und der politischen Führung unseres Landes aufgehoben ist. Und daher ist alles erlaubt. Der Einzelne erkennt schon keine Autorität mehr an, die seine Äußerungen oder Ansichten in Zweifel zieht oder gar sein Verhalten. Denn genauso halten es ja auch die Vertreter der Macht. Die Ironie liegt darin, dass wir meinen, genauso funktioniere Demokratie, ein Vorwand für alle, und dass wir uns in einer Zeit reinster Aufgeklärtheit befänden. Aber so ist es nicht, denn wenn die Herrschaft verschlagen agiert und die eigenen Bürger missbräuchlich blendet, vollzieht sich eine „sanfte Diktatur“, die man weder sieht noch hört.

Von daher darf man nicht müde werden, laut ausrufen – das Volk darf keinen Pakt der Sprache und Identität mit der Herrschaft eingehen! Die Öffentlichkeit muss ihre wertvollen Demarkationslinien halten und die politische Führung „ausgrenzen“. Soll sie doch in ihren eigenen Kreisen bleiben. Nur so, mit wachem Auge und scharfem Gehör, wird die Masse imstande sein, die Regierung in allen Bereichen zu kontrollieren und zu kritisieren. Nur so wird die Masse jede populistische Zuwendung und Schmeichelei abwehren und wieder die ehrenvolle Stellung des „einfachen Volkes“ einnehmen, die ihr zusteht.

Der Artikel wurde übersetzt von: Markus Lemke