„Erinnerungskultur entsteht aus dem Kampf um die historische Wahrheit“

Zellentrakt des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück
Teaser Bild Untertitel
Ein sachlicher, informativer und offener Dialog in Gedenkstätten erreicht jugendlichen Besucher/innen viel mehr, als vorgefertigte Gefühlsmuster (hier ein Zellentrakt des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück)

Wie kann eine zeitgemäße Erinnerungspolitik aussehen? Die Heinrich-Böll-Stiftung lud Stipendiat/innen des Deutschen Bundestages aus 24 Ländern ein, in Berlin über Erinnerungskultur zu diskutieren. Ein Veranstaltungsbericht.

Was macht die Erinnerungskultur in Deutschland aus? Und wie kann das Erinnern in Zukunft gestaltet werden, damit auch jüngere Generationen einen sinnvollen Umgang mit dem historischen Erbe finden?

Überlegungen zu diesen und vielen weiteren Fragen standen im Mittelpunkt des Seminars „Erinnerungspolitik in der multikulturellen Gesellschaft“ der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Veranstaltung fand vom 16. bis 18. März in Berlin statt. 27 Stipendiat/innen des Deutschen Bundestages aus 24 Ländern nahmen daran teil. Das Besondere an der diversen Gruppe: großes Interesse am Thema und ein unbändiger Wissensdurst. Diesem gerecht zu werden, sollte das vorrangige Ziel dieses Seminars werden.

Damit die Stipendiat/innen zunächst die Gastgeberin, die Heinrich-Böll-Stiftung, kennenlernen, skizzierte Dr. Marianne Zepp (Referentin Zeitgeschichte) die Arbeit der politischen Stiftungen in Deutschland, die Schwerpunkte der Stiftungsarbeit mit den Büros der Heinrich-Böll-Stiftung im In- und Ausland sowie den zahlreichen Partner/innen.

Welche Themen die erinnerungspolitische Arbeit insbesondere in Süd- und Osteuropa prägen, erläuterte Gudrun Fischer (Projektkoordinatorin Südosteuropa/Osteuropa/Kaukasus) in einem Kurzvortrag. Sie formulierte dabei einen Leitgedanken, der in den Reflexionen der Teilnehmer/innen immer auftauchte: Dass es beim Erinnern immer auch um Narrative geht, um Geschichte als Erzählung, die zur Identifikation einlädt, die aber auch wie im Falle der Balkanländer durchaus divergierend und sich widersprechend sein kann. Dies sollte die Stipendiat/innen im Laufe des Seminars immer wieder beschäftigen.

„Wir brauchen einen differenzierten Diskurs über die eigene Geschichte"

Wie es um die deutsche Erinnerungskultur steht beschrieb Volker Beck (MdB, Bündnis 90/Die Grünen). Der Parlamentarier setzt sich seit Langem für eine angemessene Erinnerungskultur und Wiedergutmachung von historischem Unrecht ein. Viele Jahre kämpfte er für Entschädigungen für alle Opfer des Nationalsozialismus und setzte sich für ein würdiges Gedenken ein. „Die Deutschen haben lange gebraucht, bis sie mit ihrer Geschichte im Reinen waren“, verdeutliche Beck in seinem Vortrag für die Stipendiat/innen. „Es brauchte vieler Debatten im Bundestag, Mythen und Geschichten – bis der Weg in eine deutsche Erinnerungskultur gefunden wurde.“

Beck machte auch klar, dass Erinnerung schmerzhaft sei, besonders wenn sich eine Gesellschaft mit den eigenen Verbrechen auseinandersetzen muss wie im Falle Deutschlands. Es sei wichtig, dass Erinnerungspolitik nicht staatlich gesteuerte Geschichtspolitik ist oder national besetztes Narrativ, sondern sich aus einem Prozess heraus entwickele. Der Grünen-Politiker betonte, dass Erinnerungskultur daher immer das Ergebnis von „Kämpfen um die historische Wahrheit“ sei. Insbesondere mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – wie etwa den Zuwachs an Zuspruch für rechtspopulistische Parteien.

Für die Teilnehmenden stellte sich in diesem Zusammenhang die Frage, was Deutschland konkret tun könne, um die Erinnerungskultur vor Banalisierungen und Verleugnungen rechtsextremer Gruppierungen zu schützen? Etwa wenn diese das Schuldeingeständnis Deutschlands für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg für ihre Propaganda nutzten. „Wir brauchen einen differenzierten Diskurs über die eigene Geschichte, einen demokratischen Dialog“, antwortete Beck. Dann könne eine Erinnerungskultur entstehen, die den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft auch gerecht wird.

Besucher/innen müssen in Gedenkstätten selbst Positionen entwickeln

Wie an historischen Orten gelernt werden kann und welche Bedeutung Gedenkstätten für die Erinnerungskultur eines Landes haben, manifestiert sich beispielsweise in der Gedenkstätte Ravensbrück. Dr. Matthias Heyl, Leiter der internationalen Jugendbegegnungsstätte und der pädagogischen Dienste der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, arbeitet dort seit vielen Jahren an zeitgemäßen Konzepten für die Wissensvermittlung für unterschiedlichen Besuchergruppen. In Ravensbrück wurde 1939 von der SS das größte Frauenkonzentrationslager auf deutschem Gebiet errichtet. Bis Ende April 1945 waren dort über 130.000 Frauen und Kinder inhaftiert. Zehntausende von ihnen wurden erschossen oder vergast, starben an Hunger, Krankheiten oder an den Folgen medizinischer Experimente.

„Diese Geschichte und das Thema Holocaust an Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, ist eine pädagogische Herausforderung“, so Heyl, der sich dieser Aufgabe ohne moralische Appelle oder den erhobenen Zeigefinger stellt. Seine Erfahrung zeigt, dass ein sachlicher, informativer und offener Dialog die jugendlichen Besucher/innen viel mehr erreiche, als vorgefertigte Gefühlsmuster. „Ich setze mich für eine diskursive, respektvolle Gedenkstättenpädagogik ein, in der Jugendliche über Gespräche in die Geschichte eingeführt werden. Sie müssen selbst Positionen entwickeln, damit dieser Ort auch Prozesse in ihrem Denken auslöst, mit denen sie nachhaltig agieren können“, so Heyl.

Ein Thema das die Stipendiat/innen hierbei beschäftigte, war die Frage wie angemessenes Verhalten an einem Ort aussähe, der auch ein Tatort, ein Grab und Friedhof ist. „Das muss im Kontext der Zeitgeschichte immer wieder neu verhandelt werden“, erläutert Heyl. Verhaltensweisen ließen sich einfacher reflektieren, wenn die Besucher/innen bereits in einem offenen Dialog über die Geschichte eines Täterortes sprechen konnten.

Die Erinnerungskultur in Deutschland verfügte auch über so manchen blinden Fleck. Darüber mit den Stipendiat/innen zu sprechen, war ein gesetztes Ziel des Seminars. Darum sprach Dr. Rolf Hosfeld, Leiter des Lepsiushauses in Potsdam, zum Abschluss des ersten Seminartages über das Gedenken an den Völkermord an den Armeniern – aus deutscher Perspektive. Er schilderte wie es zu dieser ethnischen Säuberung des vergangenen Jahrhunderts kommen konnte, welche Kenntnisse das Deutsche Reich darüber hatte und wie die Aufarbeitung heute vorangeht bzw. verhindert wird.

Archive ermöglichen einen besonderen Zugang zu Geschichte

Plakate und Fotos, Tonband- und Filmaufnahmen, Internetpräsenzen und Presseauswertungen – Sammlungen und Archive ermöglichen einen gezielten Zugriff auf historische Ereignisse. Mit dem Archiv Grünes Gedächtnis entstand vor 25 Jahren eine beachtliche Sammlung aus historischen Unterlagen von Bündnis 90/Die Grünen und der Heinrich-Böll-Stiftung. Zum Angebot gehören eine Bibliothek, eine Zeitschriftensammlung, Fotos, Filme, Plakate und Internetseiten. Damit die Stipendiat/innen einen ganz persönlichen Zugang erhalten, ermöglichte Christoph Becker-Schaum den Teilnehmenden Einsicht in historische Pressemitteilungen und Dokumente, anhand derer sie geschichtliche Ereignisse rekonstruieren konnten. Mit dem historischen Material zu Joseph Beuys aus den 1970er Jahren, konnten die Stipendiat/innen den Mitbegründer der Grünen sowie sein künstlerisches Schaffen und politisches Wirken auf eine völlig neue Weise kennenlernen. Die Ergebnisse waren verblüffend: eine Gruppe legte sogar eine Choreographie samt Songtext mit dem Titel „Beuys, Beuys, Beuys“ aufs Parkett.

„Täter – Opfer – Zuschauer“ - Biographien ermöglichen Auseinandersezuung

Die nächste Station führte die Stipendiat/innen zur Topographie des Terrors, neben dem Martin-Gropius-Bau und unweit des Potsdamer Platzes, wo sich von 1933 bis 1945 die wichtigsten Zentralen des nationalsozialistischen Terrors befanden. Hier waren das Geheime Staatspolizeiamt mit eigenem „Hausgefängnis” untergebracht, die Reichsführung-SS, der Sicherheitsdienst der SS und während des Zweiten Weltkriegs auch das Reichssicherheitshauptamt.

Die Seminarteilnehmer/innen lernten diesen Täterort anhand ausgewählter Biographien kennen, über Menschen, die als Täter/innen den Nationalsozialismus unterstützt haben – und von denen die meisten nie über einen Prozess zur Verantwortung gezogen wurden. Besonders anschaulich wurde die Thematik durch die engagierte Führung, die viel Raum für Nachfragen und Reflexionen zuließ. Anhand der ausgewählten Biographien konnten sich die Teilnehmer/innen kritisch mit den Kategorien „Täter – Opfer – Zuschauer“ und dem öffentlich inszenierten Terror auseinandersetzen. Der Einblick in die alltägliche Funktionsweise der NS-Herrschaft wurde so auch bedrückend greifbar.

Die Aufarbeitung von historischem Unrecht ist hochaktuell

Ein bedrückendes Gefühl begleitete die Stipendiat/innen beim Besuch der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU), die letzten Station an diesem Seminartag. Dr. Axel Janowitz und Hans-Peter Löhn vom Referat Bildung illustrierten sehr eindrücklich, welche Ausmaße die Unterdrückung und Überwachung durch einen Staatsapparat annehmen kann. Dr. Janowitz wies in seiner Einführung darauf hin, dass man jedoch deutlich zwischen dem mörderischen Nationalsozialismus und der DDR-Diktatur unterscheiden müsse. Den Opfern müsse Gerechtigkeit widerfahren, aber die Singularität des Holocaust sei nicht in Frage zu stellen.

Ein Rundgang durch das Gelände – das zwischenzeitlich zur Unterbringung von Geflüchteten genutzt wurde – führte über den teilweise abgeschirmten Hof, hin zum Kupferkessel – einem Lagerraum für Akten, der durch eine Kupferauskleidung Spionageversuchen standhalten sollte – bis hin zu den Archiven. Der Weg vorbei an unendlichen Reihen an Akten, in denen die Schicksale vieler Hunderttausend Menschen verzeichnet ist, machte deutlich, wie menschenfeindlich das SED-Regime mit Andersdenkenden umgegangen war und vermittelte eine Ahnung davon, welche schwerwiegenden Folgen dies für viele Opfer gehabt hat.

So wurde in den Archiven des BStU wurde Geschichte tatsächlich anfassbar. Der Inhalt der Akten macht einen sensiblen Umgang damit unumgänglich. Die Identität der Opfer muss geschützt werden. „Noch immer gehen täglich Hunderte Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern ein, die ihre Akten sehen möchten.“

„Der Holocaust ist präzedenzlos"

Am dritten und letzten Seminartag stand eine intensivere Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft auf dem Programm und die Überlegung, wie Erinnerungspolitik dazu beitragen kann, eine demokratische, kosmopolitische Erinnerung zu befördern. Dr. Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und Vorstand der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) warf Schlaglichter auf die Probleme und Herausforderungen, die beispielsweise die geschichtliche Verarbeitung des Holocaust bis heute impliziert. Die deutsch-jüdische Tragödie sei viel weiter gefasst und eher „eine Tragödie der Moderne“, so Wetzel. Sie zeigte sehr anschaulich an vielen Beispielen, wie antisemitische Stereotype wirken und wo sekundärer Antisemitismus wirkt, wie bei der Umkehr von Tätern und Opfern wenn Geflüchtete per se als antisemitisch gelten oder wenn die israelische Regierung mit NS- Tätern gleichgesetzt wird. In ihrem Vortrag illustrierte Wetzel den Antisemitismus in unterschiedlichen Medien sowie seine geschichtlichen Bezüge und verwies auf die zunehmend antisemitischen Inhalte im Internet – etwa in Blogs und auf Plattformen, mit denen sich das Zentrum für Antisemitismusforschung beschäftige.

Insbesondere in einer Migrationsgesellschaft mit ihren vielfältigen Identitäts- und Geschichtsbezügen sei es wichtig, neu entstandene Spannungsfelder genau zu untersuchen und ihnen demokratische und humanistische Ideen entgegenzusetzen.

Aus Wetzels Input entwickelte sich eine engagierte Diskussion mit den Stipendiat/innen, die sich fragten, ob ein gemeinsames Gedenken für alle Opfer von Genoziden möglich sei. Das verneinte Wetzel klar: „Der Holocaust ist präzedenzlos – ihn mit anderen Genoziden gleichzusetzen wäre fatal. Wir dürfen nie die Kontexte vergessen, in denen sich diese schrecklichen Tragödien ereignet haben“. Differenzierung sei jedoch notwendig und Voraussetzung für eine demokratische Erinnerungskultur.

Erinnerungskultur ist unabdingbar

Mit vielen unterschiedlichen Vorträgen und einem umfangreichen Exkursionstag fand das Seminar mit einem Weltcafé seinen Abschluss. Die interaktive Methode sieht vor, mehrere Gruppen an Thementische zu setzen, in denen ein Fragenkatalog zum Thema Erinnerungspolitik und -kultur diskutiert wurde. Die vielfältigen Ergebnisse des interaktiven Weltcafés fassten das Seminar noch einmal zusammen und machten deutlich: Jede Generation stellt neue Bezüge zur Vergangenheit her, jedes Land hat eigene – oft schmerzhafte - Überlieferungen und Tabus.

Für einige Teilnehmer/innen ist der Kolonialismus und seine Überwindung eine einschneidende Epoche ebenso wie für die osteuropäischen Stipendiat/innen die Sicherung einer offenen Gesellschaft heute am wichtigsten ist, wie sie betonten. Gerade weil politische und gesellschaftliche Einflüsse, die Medien und auch die Wissenschaft, die Narrative rund um das Erinnern immer wieder neu prägen und schreiben, ist es wichtig ein diverses, informiertes und tolerantes Geschichtsbewusstsein aufrecht zu erhalten. Gerade weil die Geschichte des letzten Jahrhunderts tiefe Wunden bei vielen Völkern geschlagen hat, bleibt es wichtig sich an einem Dialog zu beteiligen, der auf Aussöhnung setzt.

Daher ist und bleibt Erinnerungskultur unabdingbar – genauso wie die Notwendigkeit immer wieder von der Geschichte zu erzählen. Nicht nur um der Opfer zu gedenken, sondern auch um den Weg für ein interkulturelles Verständnis zu ebnen, wozu das Seminar hoffentlich beigetragen hat.